Ziele einer sozialen Bewegung in Europa

Eröffnungsbeitrag auf der Jahrestagung der »Otto Brenner Stiftung«. Von Pierre Bourdieu

Mit der Fatalität der ökonomischen Gesetze wird in Wahrheit eine - wenn auch vollständig paradoxe Form von - Politik bemäntelt, denn es handelt sich hier um eine Politik der Entpolitisierung. Eine Politik, die darauf abzielt, den ökonomischen Kräften eine schicksalhafte Macht zu verleihen, indem sie diese von jeglicher Kontrolle und jeglicher Beschränkung »befreit« und damit zugleich eine Unterwerfung von Regierungen und Bürgern unter die solchermaßen »befreiten« ökonomischen und gesellschaftlichen Mächte erreicht.

Alles, was mit dem zugleich deskriptiven wie normativen Begriff der »Globalisierung« umschrieben wird, ist aber nicht etwa das Ergebnis einer ökonomischen Fatalität, sondern einer ganz bewußten und wohlüberlegten Politik. Einer Politik, die die liberalen und selbst die sozialdemokratischen Regierungen einer ganzen Reihe von ökonomisch hochentwickelten Ländern dazu gebracht hat, ihren Anspruch auf die Kontrolle ökonomischer Mächte aufzugeben, insbesondere derjenigen, die sich sehr bewußt in den »green rooms« der großen internationalen Organisationen organisiert haben, wie die WTO, oder aber im Rahmen all der »networks« multinationaler Unternehmen, wie beispielsweise dem lnvestment Network, das aus 50 multinationalen Unternehmen wie Fiat, Daimler-Benz, British Petroleum, Rhône-Poulenc oder dem European Service Network besteht, und die insbesondere in rechtlicher Hinsicht höchst unterschiedliche Wege und Möglichkeiten haben, Staaten ihren Willen aufzuzwingen.

Entgegen dieser Politik der Entpolitisierung und Demobilisierung geht es vielmehr um die Wiederherstellung von Politik, d.h. eines politischen Denkens und Handelns, und es geht darum, hierbei den richtigen Ansatzpunkt zu finden, jenseits des Nationalstaats und seiner spezifischen Möglichkeiten, sowie mit Hilfe politischer und gewerkschaftlicher Kämpfe innerhalb der Nationalstaaten. Aus verschiedenen Gründen ist dies allerdings ein äußerst schwieriges Unterfangen.

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Die Entwicklung der Euromärsche

Zunächst einmal deshalb, weil die politischen Instanzen, die es zu bekämpfen gilt, sehr weit entfernt, ja geradezu unerreichbar sind und weil sie, sowohl von ihren Methoden als auch von ihren Akteuren her, so gut wie nichts mit den politischen Instanzen gemein haben, gegen die sich die traditionellen Kämpfe richteten. Und ferner auch deshalb, weil die Macht der Akteure und der Institutionen, die heute Wirtschaft und Gesellschaft beherrschen, auf einer außerordentlichen Konzentration sämtlicher Formen des Kapitals - in Wirtschaft, Politik, Militär, Kultur und Wissenschaft - basiert, die die Grundlage für eine nie dagewesene, symbolische Form der Beherrschung bildet, die insbesondere durch den Einfluß der Medien wirksam wird. Zugegebenermaßen liegen bestimmte Ziele eines realistischen politischen Handels auf europäischer Ebene - wenigstens in dem Maße, wie die Unternehmen und die europäischen Organisationen ein zumindest negativ bestimmendes Element dieser weltweit herrschenden Kräfte darstellen. Daraus folgt, daß der Aufbau einer einheitlichen sozialen Bewegung in Europa, die imstande ist, die verschiedenen Bewegungen, die derzeit - national wie international - noch getrennt existieren, zusammenzufassen, das unstrittige Ziel aller derjenigen ist, die den herrschenden Kräften einen wirkungsvollen Widerstand entgegensetzen wollen.

Zusammenführen, ohne zu vereinheitlichen

Die sozialen Bewegungen, so unterschiedlich sie von ihrer Entstehung, ihren Zielsetzungen und Vorhaben her auch sein mögen, weisen unbestreitbar eine ganze Reihe gemeinsamer Merkmale auf, die ihnen etwas Familiäres, Vertrautes geben. Gerade weil sie häufig aus einer Ablehnung traditioneller Formen der politischen Mobilisierung entstanden sind, und ganz besonders der Formen, die für die kommunistischen Parteien sowjetischer Prägung kennzeichnend sind, haben sie die Tendenz, jegliche Form der Monopolisierung einer Bewegung durch Minderheiten auszuschließen und besonderen Wert auf die direkte Beteiligung aller Betroffenen zu legen. In diesem Punkt stehen sie der anarchistischen Tradition sehr nahe und fühlen sich den Formen einer spontanen, selbstbestimmten Organisation verbunden, die sich durch eine eher lockere Form des politischen Apparates auszeichnet und die es ihren Akteuren ermöglicht, sich ihre Rolle als aktive Subjekte wieder anzueignen im Unterschied gerade zu den politischen Parteien, denen sie ein Monopol auf politische Intervention absprechen.

Ein weiteres gemeinsames Merkmal besteht darin, daß sie sich an klar umrissenen, konkreten Zielen ausrichten, die für das Leben in einer Gesellschaft von Bedeutung sind, wie Wohnung, Arbeit, Gesundheit usw. Ein drittes typisches Merkmal ist, daß sie tendenziell der direkten Aktion den Vorzug geben, wobei sie stets darauf achten, daß ihre Verweigerungen ebenso wie ihre Vorschläge in exemplarische Aktionen umgesetzt werden, die unmittelbar mit dem betreffenden Problem in Verbindung stehen. Ein viertes gemeinsames Unterscheidungsmerkmal ist, daß sie alle, als ein stillschweigend vorausgesetztes Prinzip eines Großteils ihrer Kämpfe, die Solidarität »auf ihre Fahnen geschrieben haben«.

Wo man eine solche Verwandtschaft der Ziele und Mittel des politischen Kampfes feststellt, da erstrebt man zwangsläufig zwar nicht gerade die zweifellos unmögliche Vereinheitlichung sämtlicher gesondert bestehender Bewegungen - wie dies häufig von den militanten Kräften, besonders von den jüngsten unter ihnen, gefordert wird, die zunächst von der Gemeinsamkeit der Ziele und den vielen Überschneidungen frappiert sind - aber doch zumindest eine gewisse Koordinierung von Forderungen und Aktionen, die jeglichen Willen der Aneignung ausschließen.

Eine solche Koordinierung müßte die Form eines Netzwerks annehmen, das in der Lage ist, die Individuen und Gruppen so miteinander zu verbinden, daß keine die andere beherrschen oder einschränken kann, so daß der gesamte Erfahrungsschatz, der sich aus der Verschiedenartigkeit der Erfahrungen, Standpunkte und Programme ergeben hat, bewahrt werden kann.

Die wichtigste Aufgabe dieser Koordination bestünde darin, die sozialen Bewegungen aus ihren fragmentierten und versprengten Aktionen herauszulösen und auf diese Weise zu vermeiden, daß sie sich in der Partikularität lokaler, partieller und punktueller Aktionen abkapseln - ohne dabei wiederum einem bürokratischen Zentralismus zu verfallen -, wobei es ihnen insbesondere gelingen sollte, die zeitweiligen Unterbrechungen oder das Abwechseln zwischen Augenblicken einer intensiven Mobilisierung und einer eher latenten zu überstehen. Diese Koordinierung sollte flexibel und dauerhaft sein und sich auf zwei verschiedenen Ebenen abspielen:

Zum einen sollte es für Ad-hoc-Treffen, oder wenn besondere Umstände es erfordern, eine kurzfristige Planung sämtlicher auf ein klar umrissenes Ziel gerichteter Aktionen geben. Zum anderen sollten in regelmäßigen Abständen mit Vertretern aller betroffenen Gruppen Diskussionen zu Themen von allgemeinem Interesse und zur Erarbeitung langfristigerer Programme durchgeführt werden. Denn es würde darum gehen, immer da, wo sich die Anliegen der verschiedenen Gruppen überschneiden, den Versuch einer Definition von allgemeinen Zielen zu machen, in denen sich alle wiedererkennen und bei denen sie zusammenarbeiten können, wobei sie ihre eigenen Fähigkeiten und Arbeitsmethoden mit einbringen könnten.

Es ist ja auch nicht verboten zu hoffen, daß durch demokratische Auseinandersetzungen innerhalb einer Gesamtheit von Individuen und Gruppen, die alle von gemeinsamen Voraussetzungen ausgehen, vielleicht doch einmal eine vernünftige und kohärente Antwort auf bestimmte fundamentale Fragen gefunden wird, für die weder die Gewerkschaften noch die Parteien eine globale Lösung parat haben.

Erneuerung der Gewerkschaftsbewegung

Eine soziale Bewegung in Europa ist nicht denkbar ohne eine erneuerte Gewerkschaftsbewegung, die imstande ist, die inneren und äußeren Hindernisse, die ihrer Stärkung und Vereinheitlichung auf europäischer Ebene entgegenstehen, zu überwinden. Nur scheinbar ist es ein Paradoxon, wenn man den Niedergang der Gewerkschaftsbewegung für einen indirekten und lediglich aufgeschobenen Effekt ihres Triumphes hält. Zahlreiche Forderungen, die die Gewerkschaftskämpfe der Vergangenheit belebt haben, sind inzwischen zu festen Einrichtungen geworden, die - da die Gewerkschaften an der Quelle der Privilegien (der Verpflichtungen oder Rechte), in Frankreich nach Art des ASSEDIC (Association pour l'emploi dans l'industrie et le commerce - etwa: Arbeitslosenversicherung) sitzen - selbst zum Spielball der Kämpfe zwischen den Gewerkschaften geworden sind. Die Gewerkschaftsbürokratien, die inzwischen selbst zu staatsähnlichen Instanzen geworden und häufig vom Staat subventioniert werden, partizipieren an der Umverteilung des Reichtums. Und sie garantieren den sozialen Kompromiß, indem sie verhindern, daß es zu Brüchen und Konfrontationen kommt.

Die gewerkschaftlichen Hierarchien, zu bloßen Verwaltungsorganen geworden, die sich weit von den Anliegen ihrer Schutzbefohlenen entfernt haben und zu Garanten eines sozialen Friedens geworden sind, sind in mehr als nur einem Fall durch die Logik der Konkurrenz zwischen den Apparaten oder innerhalb der Apparate dazu zu bringen, eher ihre eigenen Interessen zu verteidigen als die Interessen derjenigen, die sie eigentlich zu verteidigen hätten. Auch dies hat zum Teil dazu beigetragen, daß sich die Arbeitnehmer von der Gewerkschaft ferngehalten und die Gewerkschaftsmitglieder sich von der aktiven Beteiligung an ihren Aktivitäten zurückgezogen haben. Aber diese internen Gründe allein erklären noch nicht, warum die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder und ihrer Aktivitäten immer stärker zurückgeht.

Die neoliberale Politik trägt ebenfalls zur Schwächung der Gewerkschaften bei. Die Flexibilität und vor allem die unsichere Lage einer wachsenden Zahl von Arbeitnehmern trägt ebenfalls dazu bei, jegliches gemeinsames Handeln, ja selbst die einfache Informationsarbeit zu erschweren, und gleichzeitig wird durch die Überreste einer Sozialfürsorge weiterhin nur ein Teil der Arbeitnehmer begünstigt.

Man sieht also, wie unerläßlich und auch wie schwierig es ist, zu einer Erneuerung der Gewerkschaftsarbeit zu gelangen, die die Einführung eines Rotationsprinzips in der Aufgabenverteilung und eine Infragestellung des Modells der bedingungslosen Delegierung zur Voraussetzung hätte, ebenso wie die Erfindung neuer Techniken, die für eine Mobilisierung der fragmentarisierten und in der Unsicherheit lebenden Arbeiter unerläßlich sind.

Die neue Organisation, die es zu schaffen gilt, muß in der Lage sein, die Aufsplitterung durch Zielvorgaben und Nationen zu überwinden, ebenso wie die Trennung in Bewegungen und Gewerkschaften. Es müssen Institutionen geschaffen werden, die durch eine Konfrontation in den Instanzen der Konzertierung und Diskussion an Dynamik nur gewinnen können. Durch die Existenz eines stabilen und effizienten Netzwerkes müßte die Entwicklung eines internationalen Forderungskataloges möglich werden. Ein solches Netzwerk hätte mit den offiziellen Organisationen, in denen die Gewerkschaften vertreten sind, wie dem Europäischen Gewerkschaftsbund, nichts mehr gemein und könnte die Aktionen sämtlicher Bewegungen zusammenfassen, die sich in bestimmten Situationen bekämpfen und von daher beschränken.

Forscher und Aktivisten

Was an Arbeit notwendig ist, um die Aufsplitterung der verschiedenen sozialen Bewegungen zu überwinden, um so alle verfügbaren Kräfte gegenüber den herrschenden Kräften zu bündeln, die ihrerseits sehr wohl bedacht und methodisch abgestimmt vorgehen - man denke nur an das Forum von Davos -, muß sich auch noch gegen eine andere, ebenso unheilvolle Trennung richten, nämlich gegen die Trennung zwischen Forschern und Aktivisten.

Angesichts eines ökonomischen und politischen Kräfteverhältnisses, bei dem die ökonomischen Kräfte die Möglichkeit haben, sich in einem nie dagewesenen Ausmaß wissenschaftliche, technische und kulturelle Ressourcen zunutze zu machen, ist die Arbeit von Forschern unerläßlich, um die von den großen multinationalen Konzernen und den internationalen Organisationen verfolgten Strategien aufzudecken, die, wie z. B. die WTO, mit einem universellen Anspruch Regelungen treffen und auferlegen, die geeignet sind, eine neoliberale Utopie Schritt für Schritt Realität werden zu lassen.

Die gesellschaftlichen Hindernisse, die einer solchen Annäherung im Wege stehen, sind keineswegs weniger groß als diejenigen, die sich zwischen den verschiedenen Bewegungen oder zwischen diesen Bewegungen und den Gewerkschaften auftun. Bei aller Unterschiedlichkeit der Ausbildung und des gesellschaftlichen Werdegangs sowie ihrer gesamten Art, zu denken und zu handeln, müssen die (häufig international arbeitenden) Forscher und die (meist nationalen) Aktivisten es lernen, miteinander zu arbeiten und sämtliche negativen Vorurteile, die die einen gegenüber den anderen haben mögen, zu überwinden.

Dies ist eine der Voraussetzungen dafür, damit es durch ein kritisches Vergleichen von Erfahrungen und Kompetenzen zu einer kollektiven Erarbeitung von Antworten kommt, die ihre politische Überzeugungskraft der Tatsache verdanken, daß sie auf systematischer wissenschaftlicher Arbeit beruhen und zugleich ihre Wurzeln in gemeinsamen Zielvorstellungen und Überzeugungen haben.

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