Der Vertrag von Nizza

Der nächste Schritt zum EU-Superstaat

von Anthony Coughlan

»Es ist nur natürlich, dass der östliche Teil des Kontinents uns für die nächsten Jahre beschäftigen wird, da die Deutschen dies als ihre historische Aufgabe betrachten. Die höchste Priorität besteht in dem Versuch, ganz Europa zu integrieren. Während es für Frankreich vor allem darum geht, mit seinem Einflussverlust in der Welt zu Rande zu kommen.«" (Immo Strabeit, früherer deutscher Botschafter in Paris, International Herald Tribune, 11.-12.September 1999)
Der nachstehende Artikel stellt den ersten Teil einer umfassenderen Analyse der Kernpunkte des in Nizza zu verhandelnden neuen Regierungsvertrags dar. Wir entnehmen ihn dem in der Schweiz herausgegebenen Europa-Magazin, einer »Zeitschrift für direkte Demokratie, Selbstbestimmung und internationale Zusammenarbeit« (3/2000).

Alles fing mit dem Vertrag von Rom an (1957), der die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) - einen gemeinsamen Markt - mit einem hoch geschützten Agrarsystem verband. Dann wurde 30 Jahre lang kein neuer Vertrag abgeschlossen. Daraufhin kamen vier neue Verträge in genau zehn Jahren, ein qualitativer politischer Quantensprung, der das, was ursprünglich eine wirtschaftliche Freihandelszone war, hin zu einem embryonalen Weltmachtstaat veränderte. Die europäische Einheitsakte 1987, Maastricht 1992, Amsterdam 1997 und nun der Vertrag von Nizza, der im Dezember 2000 reif für die Unterschrift sein soll. Auf diesen Vertrag wird, wie bereits von Frankreichs Chirac und Deutschlands Schröder und Fischer angekündigt, der endgültige Vertrag folgen, der das föderative Gebilde krönen soll: eine europäische Verfassung für den EU-Superstaat.

Das bürokratische, institutionelle Monster, das die EU bis heute wurde, bedroht die grundlegenden demokratischen Rechte beinahe jedermanns auf unserem Kontinent. Die EU beinhaltet die Zerstörung der Demokratie beinahe aller, seit langem etablierten Staaten Europas. Sie repräsentiert die Auflösung des demokratischen Erbes der französischen Revolution, insbesondere das Recht der Nationen und Völker auf Selbstbestimmung. Dieses berühmte Recht ist nunmehr als grundlegendes Prinzip des internationalen Rechts in der Charta der Vereinten Nationen anerkannt. Nationale Unabhängigkeit und demokratische Selbstbestimmung stehen jedoch im Gegensatz zum System des Finanzfeudalismus und der supranationalen Bürokratie, wie es die EU darstellt.

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Die EU-Osterweiterung und die Neugewichtung der Stimmen

Zu einer Zwei-Drittel-EU

Denn die EU ist ein Europa ohne Demokratie, im Dienste riesiger transnationaler Unternehmungen und supranationaler Technokraten. Seine Ideologen sind die sozialwissenschaftlichen und mediokratischen Eliten auf nationaler und EU-Ebene. Deren demokratischen und humanen Instinkte haben sich angesichts der Macht in Pudding aufgelöst. Die Völker Europas hätten nie zur gegenwärtigen EU-Konstruktion Ja gesagt, wenn sie im voraus gewusst hätten, wo das ganze hinführen sollte - zu einer Art Euro-Superstaat, in dem ihre Demokratien aufgelöst würden. Die Administratoren und Ideologen, welche den EU-Integrationsprozess glühend verfechten, waren immer vorsichtig in Bezug auf eine klare Offenlegung ihrer Ziele.

Diese Leute sind Meister der Strategie der kleinen Schritte. Lasst uns zuerst die Kohle- und Stahlindustrie Frankreichs und Deutschlands gemeinsam verwalten, um einen nächsten europäischen Krieg zu verunmöglichen. Um vollen Nutzen aus dem integrierten Kohle- und Stahlmarkt zu ziehen, brauchen wir einen gemeinsamen Markt. Um vollen Nutzen aus dem Vertrag von Rom zu ziehen, brauchen wir einen einzigen Binnenmarkt, mit auf breiter Ebene harmonisierten Regeln für Güter, Dienstleistungen, Kapital und Arbeit. Dies führte zum Vertrag mit dem merkwürdigen Titel »Europäische Einheitsakte«. Um vollen Nutzen aus dem Binnenmarkt zu ziehen, brauchen wir eine Einheitswährung. Das war Maastricht. Um vollen Nutzen aus der Eurowährung zu ziehen, brauchen wir eine Union mit einer juristischen Person, mit einer gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik und einer EU-Armee, die den Willen der Union ausserhalb der EU-Grenzen durchsetzen kann.

Die politische Union ist nötig, um vollen Nutzen aus der Wirtschafts- und Währungsunion zu ziehen. Dies wurde teilweise im Amsterdamer Vertrag erreicht. Nun brauchen wir den Vertrag von Nizza, um Ost- und Südosteuropa einzubinden und um diese Staaten auch formal unter die gemeinsame Hegemonie Deutschlands und Frankreichs zu bringen. Und schon sprechen die Politiker vom nächsten Vertrag - nach dem Vertrag von Nizza. Dies soll der Vertrag werden, der eine formale Verfassung für den neuen EU-Staat einführt, um die dauerhafte deutsch-französische Herrschaft im Rahmen eines hochzentralisierten Quasi-Bundesstaats EU abzusegnen: ein modernes Karolingerreich, als dessen Bürger sich die Leute plötzlich wiederfinden werden, ohne je voll realisiert zu haben, wie sie dorthin gekommen sind.

Angriffe auf die Demokratie lösen selbstverständlich Reaktionen aus. In ganz Europa realisieren die Leute allmählich, was ihnen an Demokratie und Unabhängigkeit geraubt wurde und dass sie eigentlich nichts mehr zu sagen haben. Alle wichtgen Entscheidungen werden hinter verschlossenen Türen in Brüssel und in Frankfurt/M getroffen - und in den Chefetagen der EU-Multis. So wie die Menschen den Wert der Gesundheit erst bemerken, wenn sie krank sind, realisieren sie den Wert der Demokratie erst, wenn sie diese verloren haben. Dann wird der Kampf, um sie wieder zu erlangen, lang und hart werden. Es ist zweifellos so, dass eine starke Reaktion gegen die EU nun über Europa hinwegwächst. Das nächste Schlachtfeld für die Demokratie wird der Vertrag von Nizza sein. Der Vertrag von Nizza wird versuchen, sechs grosse Probleme zu regeln:

1. Die EU-Osterweiterung und die Neugewichtung der Stimmen

Die Mächtigen in der EU sorgen sich vorerst um ihr Gewicht angesichts einer möglichen EU-Erweiterung auf 18, 20, 25, ja vielleicht sogar 30 Staaten - sofern all jene Beitrittskandidaten aufgenommen werden, deren Regierungen, in Verzweiflung ob ihrer Unfähigkeit, richtige, unabhängige Demokratien aufzubauen, EU-Beitrittsgesuche hinterlegt haben, wohl um der Verantwortlichkeit gegenüber ihren WählerInnen zu entgehen. Die politischen Eliten der Beitrittskandidaten träumen davon, innerhalb der EU bei den Regierungsgeschäften mitmachen zu können, statt sich mit den schwierigen Problemen ihrer eigenen Länder herumschlagen zu müssen.

Eine nette Illusion fürwahr, denn Deutschland und Frankreich, welche die gegenwärtige EU dominieren, haben nicht die geringste Absicht, einer Schar von kleinen und armen Ländern Ost- und Südosteuropas zu erlauben, sie zu überstimmen und die Politik auf der Grundlage formeller EU-Gleichheit zu bestimmen. Das Thema ist für die deutsch-französische Politik im Rahmen des Nizza-Vertrags zentral. Die Machtbeziehungen kristallisieren sich um das Thema der Stimmengewichtung in den Ministerräten, welche die Legislative der EU darstellen. In den Ministerräten verabschieden nationale Politiker, die in ihren eigenen Ländern Mitglieder der Exekutive sind und die einer gewählten Mehrheit in ihren nationalen Parlamenten verantwortlich sind, EU-Gesetze und Erlasse - hinter verschlossenen Türen. Dies für 15 Länder, und sie sind niemandem als Kollektiv verantwortlich.

Gegenüber der länger werdenden Schlange von EU-Beitrittskandidaten vertreten Deutschland, Frankreich, Italien und Grossbritannien - die bevölkerungsreichsten Staaten - die Meinung, ihre grossen Bevölkerungen rechtfertigten eine stärkere Gewichtung ihrer Stimmen. Sie betonen, künftig könne nichts mehr beschlossen werden, ohne dass die Staaten, welche die Mehrheit der 300 Millionen Einwohner der Union repräsentieren, damit einverstanden sind. Wenn die grösseren Staaten etwas wollen, dürfen sie nicht durch bevölkerungsmässige Zwänge blockiert werden. Vorschläge für deutsch-französische Sperrminoritäten, die durch die Bevölkerungsgrösse gerechtfertigt werden, schaffen selbst bei langjährigen Mitgliedern wie den Benelux-Staaten und Irland Ängste.

Dieses zentrale Thema der Regierungskonferenz in Nizza wird vermutlich erst in letzter Minute entschieden werden. Wenn der Streit darum nicht bis Dezember beigelegt wird, wird es keinen Vertrag von Nizza geben, und man wird statt dessen von einem Stockholmer oder Göteborger Vertrag sprechen, da Schweden im Januar die EU-Präsidentschaft übernehmen wird. Deshalb sollte man vorläufig »Vertrag von Nizza« in Anführungszeichen setzen.

Vermutlich werden die meisten osteuropäischen Beitrittskandidaten für viele Jahre vor der Tür gelassen. Deutschland, Frankreich und die übrigen EU-Staaten haben eine ziemlich ambivalente Haltung gegenüber der Erweiterung, obwohl sie diese öffentlich befürworten. Die EU möchte die Beitrittskandidaten dabei haben, ohne die dabei zu haben. In einem gewissen Sinn halten die Westeuropäer die Ost- und Südosteuropäer gegenwärtig in einer idealen Position. Die Regierungen der Beitrittskandidaten haben sich selber in die Position der pathetischen Bittsteller manövriert. Sie haben der weitgehenden Preisgabe der Demokratie im Prinzip zugestimmt, um der EU beitreten zu können, sie selbst werden vermutlich aber lange Jahre ohne jeglichen Einfluss auf die EU-Politik bleiben. Sie sind von dieser Beitrittspolitik betroffen und dennoch zum Warten verurteilt. Sie sind betört von der Phantasievorstellung, Europa neben Deutschland und Frankreich mitgestalten zu können.

Die Regierungseliten der Beitrittskandidaten vergeuden ihre Zeit damit, die 20.000 EU-Gesetze und -Verordnungen (ca. 100.000 Seiten Text) in ihre Gesetzgebung hineinzuschreiben, ohne dass sie das Recht hätten, daran ein Jota zu ändern. Zugleich sind sie prinzipiell einverstanden, ihre eigenen Währungen aufzugeben, selbst wenn diese in vielen Fällen nicht älter als zehn Jahre sind. Die nationalen Elite der Beitrittskandidaten gefallen sich in der Rhetorik über die »europäischen Werte« (Auschwitz, zwei Weltkriege, Kolonialismus?), während ihre Bevölkerungen mit jedem Tag enttäuschter sind, wie weit ihre Regierungen in der Preisgabe von Demokratie und Unabhängigkeit bereit sind zu gehen. Es wäre für einen politischen Realisten angesichts dieser Tatsachen töricht zu erwarten, die gegenwärtige EU der 15 könne sich auf 18, 20, 25 oder 30 Staaten erweitern.

2. Zu einer Zwei-Drittel-EU

Wenn Deutschland und Frankreich wünschen, Ost- und Südosteuropa mittels der EU zu beherrschen, ohne das Risiko einzugehen, eine Schar kleiner und ärmerer Beitrittskandidaten als formal Gleichberechtigte in den Ministerrat aufnehmen zu müssen, gibt es dazu keinen besseren Weg als die Schaffung eines »Kerneuropa«. Sie können so eine Art föderalen Superstaat unter sich gründen, mit einer eigenen Verfassung, eine Parlament, einer Währung und einer Armee. Diese Kerngruppe kann dann ständig die übrigen mit vollendeten Tatsachen konfrontieren und sie effizient politisch und wirtschaftlich beherrschen.

Dies ist der Hintergrund der neulichen Forderungen von Chirac, Fischer und Schröder nach einer EU-Verfassung. In Fischer berühmter Rede vom Mai 2000 verlangte der deutsche Aussenminister »den Übergang vom Staatenverbund der Union hin zu vollen Parlamentarisierung in einer Europäischen Föderation, die Robert Schuman bereits vor 50 Jahren gefordert hat. Und d.h. nichts geringeres als ein europäisches Parlament und eine ebensolche Regierung, die tatsächlich die gesetzgebende und die exekutive Gewalt innerhalb der Föderation ausüben. Diese Föderation wird sich auf ein Verfassungsvertrag zu gründen haben«. Die deutsch-französischen Politiker unterscheiden sich im Tonfall, ihr gemeinsames Thema ist jedoch die ständige Bezugnahme auf das, was sie variantenreich als »Avantgarde«, »Pioniergruppe«, »Koalition der Willigen«, »Kerngruppe« uws. beschreiben. Dies ist die Zwei-Drittel-Formel, mit Deutschland, Frankreich und ein paar weiteren Staaten im obersten Drittel. Dieser embrionale EU-Superstaat muss, wie alle Staaten, eine Verfassung haben.

Die zwei wesentlichen Attribute eines Staates sind die Armee und die Währung, das Monpol auf legale Gewaltanwendung über ein Territorium und das Monopol, die legalen Träger einer Währung herauszugeben. Das erste Monopol ist für das zweite wesentlich. Alle Staaten haben ihre eigene Währung und alle Währungen gehören zu Staaten. Die EU erhielt ihre eigene Währung mit dem Euro, der am 1. Januar 2002 die nationalen Währungen ersetzen wird. Dadurch machte sie einen grossen Schritt hin zum souveränen Staat. Im Jahr 2003 wird sie ihre eigene Armee haben: Schnelle Eingreiftruppen mit 60.000 Mann, unterstützt von einer Hilfstruppe aus weiteren 150.000 Soldaten, die in Kriegen ausserhalb der EU-Grenzen eingreifen sollen, mit oder ohne Mandat der UNO. Wenn solche riesigen Schritte innerhalb weniger Jahre vorgenommen werden, kann der Entwurf und die Durchsetzung einer europäischen Verfassung kein allzu grosses Problem mehr darstellen.

Das grundlegende legale Hindernis für eine Zwei-Drittel-EU besteht darin, dass der Amsterdamer Vertrag die Zustimmung aller anderen verlangt, wenn einige EU-Staaten die Integration weiter vorantreiben wollen. Und nicht alle EU-Mitgliedstaaten sind darüber glücklich, sich später jeweils fertigen Tatsachen gegenübergestellt zu sehen, die von der »Avantgarde« entschieden wurden. Deshalb besteht ein hauptsächliches Anliegen der Regierungskonferenz in Nizza darin, die Einstimmigkeitsregel des Amsterdamer Vertrags in diesen Fragen formal aufzuheben. Dann wäre die »Avantgarde« rechtlich ermächtigt, allein die Integration voranzutreiben. Im EU-Jargon wird dies »Flexibilität« genannt. »Flexibilität« klingt ungefährlich. In Wirklichkeit wird damit jedoch der Weg für eine Zwei-Drittel-EU freigemacht, die durch den inneren deutsch-französischen Kern dominiert wird. »Flexibilität« ist ein Schwungrad für mehr Integration, das Staaten, die den Bundesstaat wollen, erlaubt, das Terrain vorzubereiten und später die weniger Willigen zu zwingen nachzuziehen. Es ist der gsetzlich-politische Weg hin zum EU-Superstaat und bedeutet, dass manche Mitgliedstaaten formell darauf verzichten, in wichtigen politischen Bereichen wie die anderen behandelt zu werden. Ob die weniger integrationsfreudigen Länder hier nachgeben oder nicht, ist eine wesentlicher Punkt des Vertrags von Nizza. [...]

Anthony Coughlan

Anthony Coughlan ist Professor für Sozialpolitik am Trinity College in Dublin, Irland. Er ist Vorstandsmitglied der European Anti-Maastricht-Alliance (TEAM) und Sekretär der EU-kritischen National Platform in Irland.

http://www.crossnet.ch/europa-magazin

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