Geteiltes Europa

Grundrechtecharta und Regierungskonferenz in Nizza

Auf der Regierungskonferenz der EU-Staaten, die am 7. und 8. Dezember in Nizza stattfindet, wird eine EU- Grundrechtecharta verkündet werden. Auf den Text haben sich die Staats- und Regierungschefs bereits auf dem Gipfel in Biarritz Mitte Oktober verständigt. Eine Debatte darüber wird es in Nizza nicht mehr geben - höchstens noch um die Frage, ob die Charta in den EU-Vertrag aufgenommen und damit rechtlich verbindlich und einklagbar werden soll. Die deutsche und die französische Regierung befürworten das, sie betrachten die Charta als Kernstück einer künftigen EU- Verfassung. Aus demselben Grund stehen die Londoner und die skandinavischen Regierungen dem Vorschlag eher skeptisch gegenüber.

Eilverfahren - warum?

In EU-Kreisen wird die Grundrechtecharta als ein »deutsches Projekt« bezeichnet. Es war die Regierung Schröder, die den Prozeß auf dem Gipfel in Köln Anfang Juni 1999 in Gang setzte. Danach wurde ein »Konvent« gebildet, zusammengesetzt aus 63 Vertretern der nationalen Parlamente, des Europäischen Parlaments, der EU- Regierungen und der EU-Kommission. In gerade einmal neun Monaten hat er aus dem Bestand der europäischen Verfassungen und Konventionen eine Grundrechtecharta gezimmert. Anerkannte Nichtregierungsorganisationen wie die Wohlfahrtsverbände und der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) wurden gehört, ihre Kritiken teilweise eingearbeitet. Zudem wurde der Diskussionsprozeß über Internet öffentlich gemacht; jeder Mensch im Besitz der entsprechenden Hardware und der Kenntnisse im Umgang mit dem Internet konnte ihn verfolgen.

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Die Entwicklung der Euromärsche

Auf so demokratische Weise sei noch nie eine Charta entstanden, loben ihre Befürworter das Verfahren. Sie übersehen dabei eins: Das Eiltempo, in dem die Charta geschrieben wurde, hat eine Diskussion in der breiten Öffentlichkeit geradezu ausgeschlossen. Bestenfalls die von Berufs wegen mit dem Thema befaßten politischen Eliten konnten sich eine Meinung bilden. Die Bevölkerungen, die es betrifft, waren auch diesmal von der Diskussion und einer wirksamen Mitsprache ausgeschlossen. Die wenigsten Menschen wissen davon, daß in Nizza das Kernstück einer europäischen Verfassung verkündet werden soll. Der neue Umgangston, der sehr auf die Einbeziehung von NGOs bedacht ist, hat das Demokratiedefizit nicht behoben.

Warum aber dann eine Charta, wenn sie die Legitimationsprobleme der EU nicht behebt?
Die offizielle Argumentation lautet: Der EU fallen heute - seit dem Beschluß in der Europäischen Einheitsakte 1996, eine Wirtschafts- und Währungsunion einzuführen - viel mehr Kompetenzen zu als früher. Über 60 Prozent der Gesetze, die den Deutschen Bundestag passieren, haben ihren Ursprung in Brüssel, im Bereich der Wirtschaftspolitik sind es sogar über 80 Prozent. Deshalb brauche man einen Grundrechteschutz, der das Handeln der EU bindet.

Das stimmt nicht ganz: Der Europäische Gerichtshof spricht auch heute schon Recht, und er tut das auf der Basis des gemeinsamen europäischen Gesetzesrahmens, der gemeinsamen Verfassungstraditionen und der europäischen Verträge, zu denen z.B. die Europäische Menschenrechtskonvention von 1950 oder die Europäische Sozialcharta (1996 in ihrer überarbeiteten Fassung) gehören. Er fühlt sich auch an internationale Verträge gebunden, die die Mitgliedstaaten unterzeichnet haben.

Diese Verträge sind für die Staaten, die sie ratifiziert haben, durchaus verbindlich. Der ehemalige Richter am Europäischen Gerichtshof in Strasbourg, Prof. Rudolf Bernhardt, schreibt dazu in einem Beitrag für die FAZ (27. 9.):

Ein völkerrechtlicher Vertrag verpflichtet die Vertragspartner, ihren Bürgern und allen anderen ihrer Hoheitsgewalt unterworfenen Menschen fundamentale Menschenrechte zu gewähren und die Einhaltung der Verpflichtungen durch internationale Organe überwachen zu lassen ... Die Urteile des Gerichtshofs (des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte - A.K.) sind für die betroffenen Staaten nicht nur rechtlich verbindlich, sondern sie wurden bisher auch in der Praxis regelmäßig respektiert und unter der Kontrolle des Europarats umgesetzt.
Es stimmt also nicht, wenn so getan wird, als handele die EU in einem »rechtsfreien Raum«.

Sozialcharta unterlaufen

Die Europäische Menschenrechtskonvention hat darüber hinaus einen weitaus größeren Anwendungsbereich als die EU-Grundrechtecharta. Sie gilt für 800 Millionen Menschen, nämlich für alle, deren Staaten dem Europarat angehören. Dazu gehört z. B. auch Rußland.
Man hätte auch diese Menschenrechtskonvention nehmen und sie um die sozialen Fragen erweitern können. Das hat man nicht getan. Statt dessen hat man für einen nicht einmal halb so großen Wirkungsbereich, nämlich 350 Millionen Menschen, ein neues Verfassungsrecht geschaffen und Europa rechtlich geteilt. Warum?

Die Europäische Sozialcharta ihrerseits enthält eine relativ umfassende Sammlung sozialer Grundrechte. Sie geht in allen Punkten erheblich weiter als die neue Grundrechtecharta.
Während letztere das »Recht auf Arbeit« durch ein »Recht zu arbeiten« ersetzt und darunter nur das Recht auf freie Berufswahl und auf Niederlassungsfreiheit versteht, damit die menschliche Arbeitskraft überall angeboten werden kann, faßt die Sozialcharta darunter auch die Verpflichtung der Vertragsstaaten auf das Ziel der Vollbeschäftigung und das Recht auf berufliche Förderung. Zudem gesteht sie allen abhängig Beschäftigten das Recht auf gerechte Entlohnung zu, die ihnen und ihren Familien ein Leben in Würde sichert. Solche Passagen sucht man in der Grundrechtecharta vergeblich.

Auch die Sozialcharta ist ein Vertrag, der ihre Unterzeichnerstaaten bindet. Das Pikante ist nur: Es gibt einige angeblich hochentwickelte Staaten in der EU, die haben die Sozialcharta nicht unterzeichnet. Dazu gehören Österreich, Norwegen, Irland, Spanien, aber auch Deutschland. Sogar Großbritannien hat sie unterzeichnet. Ratifiziert, also im Parlament verabschiedet, hat sie indes nur Schweden.

Das hat seine Gründe. Die Staaten, die ja alle auf das kapitalistische Eigentum schwören, wollen so weitgehende soziale Rechte nicht zugestehen, weil dies ein zu starkes Gegengewicht gegen die Unternehmer- und Eigentumsrechte darstellen würde.
Deshalb hat der Konvent bei der Diskussion über die Aufnahme sozialer Rechte in die Grundrechtecharta von vornherein erklärt, bei den sozialen Rechten müsse man zwischen Rechten und politischen Zielen unterscheiden. Die Rechte sichern nur die Zugangsvoraussetzungen zu sozialen Leistungen, nicht die Leistungen selbst. Sie bleiben formal. Kein »Arbeitnehmer« kann damit eine bestimmte Teilhabe am Reichtum einklagen. In der Grundrechtecharta sind die sozialen Rechte, auf deren Einführung und Einklagbarkeit der Konvent sich soviel zugute hält, ihres Inhaltes entleert.

Das kann in der politischen Praxis negative Folgen haben. Denn ein europäischer Verfassungsprozeß - und um einen solchen handelt es sich bei der Charta - ist immer ein Prozeß der Angleichung von Recht. Es fragt sich nur, ob diese nach oben oder nach unten erfolgt. Unter Umständen kann die Charta zu einem Instrument der sozialen Regression zu werden. Ein Beispiel: Im Vorfeld der Beratungen über den neuen EU-Vertrag haben die EU-Sozialminister den Vorschlag gemacht, die EU-Kommission solle ermächtigt werden, Richtlinien für den Bezug von Arbeitslosengeld zu formulieren. Wenn solche Richtlinien unter dem Niveau z. B. des bundesdeutschen Rechts liegen, wird man dagegen auf der Grundlage der Charta nicht klagen können. Sie sichert aber ab, daß die Kommission so etwas darf. Denn jetzt gibt es ja angeblich soziale Mindeststandards.

Neoliberal

Die zunehmende Integration der EU ist unübersehbar, und es ist nur ihrer besonderen Konstruktion geschuldet, daß sie wenig sichtbar ist und vom Großteil der Bevölkerung, aber auch der Linken nicht wahrgenommen wird. Das Wettbewerbsrecht ist weitgehend EU-Recht, das Umweltrecht auch. Die EU bestimmt darüber, ob die Sparkassen ihr Privileg behalten dürfen, sie setzt die Maßstäbe für die Deregulierung und Privatisierung der Strommärkte, der Telekommunikation und der Verkehrsnetze. Die EU koordiniert die Polizeigesetze und »vereinheitlicht« das Asylrecht. Im Amsterdamer Vertrag 1997 hat sie eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik aus der Taufe gehoben, und in Nizza stellt sie eine 60 000 Mann starke europäische Armee auf die Beine, die - flankiert von einer 150.000 Mann starken Hilfstruppe - als schnelle Eingreiftruppe dienen soll.

Einzig der Bereich Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik und die Steuerpolitik sind dem Zuständigkeitsbereich der EU weitgehend entzogen, und die neoliberalen Falken unter den Ratsherren setzen alles daran, daß es so bleibt. Eine Kompetenz der EU in diesen Bereichen würde bedeuten, daß die Regulierungen, die es in den Einzelstaaten gibt, auf die EU übertragen würden; es gäbe dann Ansätze zu einem europäischen Sozialversicherungssystem, Steuersystem usw. Es gäbe über den Weg der Politik eine Angleichung der Lebensverhältnisse auf ein höheres Durchschnittsniveau in der EU. Das ist nicht gewollt - das will auch die Bundesregierung nicht.

Das EU-Recht soll parzelliert bleiben. In der neoliberalen Terminologie wird das Subsidiaritätsprinzip genannt. Die Charta ändert an diesem Konstruktionsmuster nichts, im Gegenteil, sie bekräftigt es. In der Präambel steht, worum es ihr geht:

Die Union ... ist bestrebt, eine ausgewogene und nachhaltige Entwicklung zu fördern und stellt den freien Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr sowie die Niederlassungsfreiheit sicher ... unter Achtung der Zuständigkeiten und Aufgaben der Gemeinschaft und der Union und des Subsidiaritätsprinzips ...

Subsidiaritätsprinzip bedeutet: Immer wenn es um soziale Rechte geht, verweist die Charta auf die »nationalen Bestimmungen«. Wenn es sich darum dreht, den freien »Personen-, Waren- und Kapitalverkehr« zu sichern, gibt es solche Einschränkungen nicht, da werden die Rechte - z. B. das Recht auf Eigentum - als europaweit geltende Rechte formuliert.

Ein Beispiel. In Artikel 15 heißt es: »Jede Person hat das Recht, zu arbeiten und einen frei gewählten oder angenommenen Beruf auszuüben. Alle Unionsbürgerinnen und Unionsbürger haben die Freiheit, in jedem Mitgliedstaat Arbeit zu suchen, zu arbeiten, sich niederzulassen oder Dienstleistungen zu erbringen.« Aber: »Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat nach dem Gemeinschaftsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten Anspruch auf Schutz vor ungerechtfertigter Entlassung.« (Artikel 30)

PDS links überholt

Der Europäische Gewerkschaftsbund demonstriert in Nizza, weil auch die gewerkschaftlichen Rechte unter diesen »nationalen Vorbehalt« gestellt und nicht als europäische Rechte formuliert werden: Es gibt in der Charta kein europäisches Streikrecht, kein Recht auf europaweite Tarifverträge, kein europaweites Recht auf Anhörung und Unterrichtung der Arbeitnehmer. Im Aufruf zur Demonstration fordert der EGB deshalb, daß die Charta erheblich verbessert wird, bevor sie Eingang in den EU- Vertrag findet.
Damit überholt der Europäische Gewerkschaftsbund die PDS weit links, die ungeachtet der neoliberalen Orientierung, die die Charta zementiert, ihre Proklamation in Nizza feiert und ihre sofortige Aufnahme in den Vertrag fordert. Es ist schon peinlich, wenn in der konservativen FAZ (vom 5. September) Professor Karl A. Schachtschneider schreibt: »Die allgemeine Unternehmerfreiheit des Art. 16 verändert die politischen Verhältnisse grundlegend zugunsten des Ökonomismus und zu Lasten der mit der Freiheit untrennbar verbundenen Brüderlichkeit der Menschen«, die angebliche »sozialistische« Linke hingegen eine solche Kritik nicht mehr vorzubringen wagt.

Minimalrecht

Das Recht, das die Grundrechtecharta formuliert, ist ein Minimalrecht, das in einer Reihe von Fragen weit hinter den Rechtsrahmen einzelner Mitgliedstaaten zurückfällt. Das gilt nicht nur für die sozialen Rechte, es gilt auch für die Rechte der Nicht-EU-Bürger: Im Artikel über das Asylrecht findet sich keine individuelle Rechts- und Rechtswegegarantie für Asylsuchende in der EU. Es gilt für die Gleichstellung der Frauen und sogar für die Pressefreiheit, die in der Charta nur geachtet, nicht gesichert wird. Es ist deshalb falsch, wenn der Eindruck erweckt wird, die Charta schaffe ein neues europäisches Grundrecht. Das Gegenteil ist der Fall: Sie faßt nur den kleinsten gemeinsamen Nenner von derzeit in der EU bestehendem Recht zusammen.

Stichhaltig ist auch nicht das Argument, die Charta könne ja immer noch nachgebessert werden. Wann wurde eine Verfassung jemals nachgebessert? Die Charta wurde zwischen Regierungen ausgehandelt und zwar unter der Bedingung, daß alle ihr zustimmen müssen, sonst kommt sie nicht zustande - in der EU herrscht bisher in solchen Fragen noch das Prinzip der Einstimmigkeit. Logisch, daß dann nur soviel hineingeschrieben wird, wie die Regierung, die am wenigsten Rechte gesichert wissen will, bereit ist hineinzuschreiben. Neues Recht, das für alle EU-Staaten den jeweils besten Standard durchsetzte, wäre nur möglich, wenn es eine breite Bürgerbewegung für ein fortschrittliches EU- einheitliches Recht gäbe. Die aber setzt eine breite Diskussion und Anteilnahme in der Bevölkerung voraus. Die Regierenden wissen schon, warum sie einen solchen Diskussionsprozeß vermeiden.

»Kerneuropa«

Warum also die Charta? Es gibt dafür einen einfachen Grund, der nicht in ihr selbst, sondern in den anderen Punkten zu suchen ist, die in Nizza verhandelt werden: die sogenannte Reform der EU-Institutionen im Hinblick auf die Osterweiterung. Diese Reform zielt auf die Schaffung eines »Kerneuropa«, das den bevölkerungsstarken Staaten - Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien - ein höheres Stimmengewicht zuerkennen will als den »kleineren« Staaten. Nur unter dieser Bedingung, daß nicht mehr jeder Staat dasselbe Stimmengewicht hat, sind die großen Staaten bereit, das Prinzip der Einstimmigkeit zugunsten einer gewichteten Mehrheit aufzugeben. Damit wird das Prinzip des ungleichen Rechts weiter auf die Spitze getrieben und die vier Großen können das Schicksal Europas und der von ihm kontrollierten Teile der Welt von nun an unter sich ausmachen. Allerdings muß der neue Grundsatz noch einstimmig von allen akzeptiert werden. Man kann sich vorstellen, mit welchen Bandagen in Nizza gefeilscht, gedroht und gepokert werden wird, um die kleinen Staaten zu überreden, ihre Rechte mal wieder abzugeben.

Ein solches Supereuropa aber braucht eine Verfassung, damit es eine formale Legitimation bekommt. Angeblich soll das Kerneuropa die »Avantgarde« sammeln, diejenigen, die bereit sind, in der Integration einen Schritt weiter zu gehen als die anderen. Es gehören aber gar nicht die Integrationswilligsten, sondern die Mächtigsten dazu. Die Charta deckt das. Sie bildet den Kern der Konstitution eines autoritären Gebildes, das seinen undemokratischen Charakter durch einen formalen Verfassungsprozeß zu verdecken sucht.

Der genannte konservative Professor hat schon recht, wenn er schreibt, die Charta sei Ausdruck eines monarchistischen, nicht eines republikanischen Staatsverständnisses.
Schade nur, daß die Konservativen immer an dem Punkt aufhören nachzudenken, wo es darum geht, verkorkste Institutionen durch eine soziale Bürgerbewegung wegzufegen und durch etwas Neues zu ersetzen.

Angela Klein

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