Der Europagedanke wechselt das Lager

Interview mit Michel Rousseau

für die Sozialistische Zeitung, 21.12.2000

In Nizza fanden Anfang Dezember die bisher größten Proteste gegen die Politik der Europäischen Union statt, die maßgeblich vom Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB), aber auch von unabhängigen Gewerkschaften und sozialen Bewegungen organisiert wurden. Mit Michel Rousseau, Mitglied der europäischen Koordination der Europäischen Märsche gegen Erwerbslosigkeit, ungeschützte Beschäftigung und Ausgrenzung, sprach Gerhard Klas über die politischen Auswirkungen.

Hat sich mit den Mobilisierungen gegen den EU-Gipfel in Nizza etwas verändert?

Zum ersten Mal ist ein EU-Gipfel nicht mit mehr oder weniger allgemeiner Gleichgültigkeit abgelaufen. 1997 in Amsterdam hatten die Euromärsche für eine Überraschung gesorgt und den europäischen Institutionen einen ersten Tritt verpasst, ohne dass sie wirklich etwas bewirken konnten. Seither sind wir von Gipfel zu Gipfel marschiert. Oft sind wir allein geblieben, selbst wenn es uns gelungen ist, wie in Köln fast 30000 Demonstrierende zusammenzubekommen.

In Nizza haben sich fast 100000 beteiligt. Dies wird als erste europäische Massendemonstration in die Geschichte eingehen, seitdem der Prozess des Aufbaus eines kapitalistischen Europas nach dem Zweiten Weltkrieg eingesetzt hat. Sicherlich hat es schon vorher europäische oder übernationale Mobilisierungen gegeben - doch nie in diesem Umfang anläßlich einer Gipfelkonferenz der EU, auf der ihre Umstrukturierung und ihre Ausweitung vorbereitet wird.

Die Zukunft des kapitalistischen Europas ist noch lange nicht unter Dach und Fach, sowohl im Hinblick auf die wirtschaftlichen Interessen der einzelnen Mitglieder als auch auf die Form des politischen Gefüges.

Das Bewusstsein der Europäer von einer gemeinsamen Identität steckt noch in den Anfängen. Die Mobilisierungen in Nizza stellen allerdings einen wichtigen Schritt in diese Richtung dar. Kämpfe auf der Ebene des Kontinents gegen die Auswirkungen des Neoliberalismus schaffen die Voraussetzungen für ein soziales Europa.

Bisher hatten die verschiedenen Bestandteile der sozialen Bewegungen, vor allem der in den 70er Jahren gegründete EGB, es den Unternehmern überlassen, ihr Europa aufzubauen. Ihr neoliberales Europa will nichts anderes sein als ein riesiger Freihandelsmarkt.

Nizza stellt demgegenüber einen bedeutenden Schritt hin zu einem anderen Europa für eine andere Welt dar. Es ist fast so, als ob der »Europagedanke« das Lager gewechselt hätte - oder zumindest nicht mehr Alleinerbe der Besitzenden ist. Bestimmte Teile des Unternehmertums glauben nicht einmal mehr an ihre Idee. In Nizza hat sich einiges getan: Es wird kein Europa geben, es sei denn, es ist von den Grundlagen her ein soziales Europa.

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Einige Linke sind der Ansicht, die europäische Ebene sei kein sinnvoller Rahmen, um der neoliberalen Globalisierungsoffensive entgegenzutreten. Was sagt die Europäische Koordination der Euromärsche zu dieser Kritik?

Die wirtschaftliche, vor allem aber die politische und die soziale Einheit Europas ist noch nicht erreicht. Aber gleich welche Formen das Europa des Kapitals in den kommenden Jahren annehmen wird: Das Bewusstsein, dass es notwendig ist, die Kämpfe über den nationalen Rahmen hinaus zu führen - auch und zunächst mal vor allem zum Erhalt der seit Jahrzehnten auf nationaler Ebene erreichten Errungenschaften, wird zu einer konkreten Realität. Gewiss, Kapitalismus ist international, und es gilt auf dieser Ebene globale Antworten auf die gegenwärtigen neoliberalen Offensiven zu finden. »Ein anderes Europa für eine andere Welt«, hieß es bei den Demonstrierenden in Nizza. Dabei geht es nicht darum, eine Hierarchie für eine internationale Solidaritätsbewegung aufzubauen: Erst Europa, dann die Welt.

Es geht unter anderem darum, das Potenzial der sozialen Bewegungen der europäischen Länder zu mobilisieren, um eine Tendenz umzukehren, die uns das vergangene Jahrhundert hinterlassen hat. Es ist ja immerhin mit dem Sieg des Neoliberalismus auf weltweiter Ebene zu Ende gegangen.

Abgesehen von den notwendigen, aber oft abstrakten Debatten über ideologische Fragen, eignet sich die europäische Ebene immer mehr zur praktischen Koordinierung unserer Kämpfe für konkrete Forderungen. Das ist eine Bilanz, die man zu der noch relativ neuen Erfahrung der »Europäischen Märsche« ziehen kann.

Mit den europaweiten Mobilisierungen gegen Arbeitslosigkeit, ungeschützte Beschäftigungsverhältnisse und Ausgrenzung, haben wir zu den Ansätzen einer Koordination der Kämpfe auf der Ebene des Kontinents beigetragen, die der Politik des Sozialdumping einen Strich durch die Rechnung machen wollen. Die Verbindung hat die jeweiligen nationalen Kämpfe durchaus nicht relativiert, sondern ist im Gegenteil eine Quelle für ihre Stärkung gewesen, wie es 1998 bei der Arbeitslosenbewegung in Frankreich und in Deutschland festzustellen war.

Nicht nur die Euromärsche wirken auf europäischer Ebene. Was ist von dem Auftreten des EGB in Nizza zu erwarten?

Alleine schon die Koordinierung der Kämpfe ist nicht so leicht, wie es vielleicht erscheinen mag: zum Beispiel gehen die »organisatorischen« Schwächen der Mobilisierungen in Nizza zwar zum Teil, aber nicht nur auf die Dummheit und den schlechten Willen des Bürgermeisters, des Präfekten und der französischen Regierung zurück. Die Unterschiedlichkeit in Europa ist groß und es ist überhaupt nicht einfach, gemeinsam zu kämpfen. Sprachen, Geschichte, Jahrhunderte der Abschottung, wechselseitige Unkenntnis der anderen Kultur bilden Hindernisse, über die man nicht rasch hinwegkommt - zumal wir ziemlich spät dran sind.

Trotzdem mobilisieren sich die neuen Generationen über die Grenzen hinweg, und sie finden wieder zu Formen des Internationalismus, die vorhergehende Generationen aus dem Blick verloren haben. Was in Seattle aus Anlass einer internationalen Konferenz passiert ist, hat sich in Nizza in gewisser Weise im europäischen Rahmen ereignet. Insbesondere das Zusammenkommen der verschiedenen Generationen, der Gewerkschaftsbewegung und ihren traditionellen Strukturen mit neuen Teilen der sozialen Bewegung. In Nizza hat sich eine Massenbewegungen gezeigt, die es bisher noch nicht gegeben hat - und zwar mit einer einheitsstiftenden sozialen Dynamik.

Der EGB hat Anfang der 70er Jahre den ersten Versuch zur gewerkschaftlichen Koordinierung in Europa unternommen. Zum großen Bedauern mancher Begründer spielt er nur noch die Rolle einer Lobby in der EU. Die gegenwärtige Führung hatte vor, die Mobilisierung nach Nizza zu einer Unterstützung für das Verfassungsprojekt eines liberalen Europas werden zu lassen, vor allem mit der Einfügung der sogenannten Grundrechtecharta in den Unionsvertrag. Die Blöcke auf der Straße sprachen eine ganz andere Sprache, wenn man nach den Losungen geht, die dort zu sehen oder zu hören waren. Vielfach trafen sie sich mit den Forderungen des »Komitees für eine andere Charta«. Natürlich gab es ein unterschiedliches Herangehen - man kann aber sagen,dass die Demonstration viel weniger von Spaltungslinien geprägt war als der offizielle Gipfel.

Wie sehen die Perspektiven aus?

Es deutet alles darauf hin, dass die europäische Ebene zu einer Plattform für die Neuformierung der unterschiedlichen sozialen Kräfte werden kann, die in ihren nationalen Grenzen auf der Stelle traten und noch treten. Man kann bereits feststellen, dass in Netzwerken wie den Euromärschen oder dem Netzwerk gegen die kapitalistische Globalisierung (ATTAC) neue Generationen von Aktiven antreten, die auf europäischer und internationaler Ebene denken und handeln.

Wir haben in Nizza jedoch nicht nur demonstriert und Ideen zum Ausdruck gebracht. Wir haben unseren Gegnern gegenüber Punkte gemacht. Wir haben einen Anteil daran, dass die Charta nicht in den Vertrag eingefügt worden ist, dass die Sozialagenda neu geschrieben worden ist, dass Bildung, Gesundheit und Kultur nicht dem internationalen Handelsregime ausgeliefert worden sind. Natürlich sind wir noch weit vom Ziel entfernt. Aber wir sind dabei, zu einem politischen Faktor zu werden.

Nun ist es um so wichtiger, dass wir für genau umrissene Ziele agieren. Sie sind dazu geeignet, die kontinuierlichen Offensiven des Neoliberalismus zurückzudrängen. Hierum drehen sich die Überlegungen, die wir innerhalb der Märsche über »europäische Forderungen« anstellen, vor allem zu der Frage der sozialen Mindestrechte und den ungeschützten Beschäftigungsverhältnissen. Im nächsten Jahr werden wir wieder aus Anlass aller Gipfel (erst in Göteborg, dann in Brüssel) und internationaler Konferenzen (z.B. G7 in Genf) mobilisieren, auf denen ohne uns und gegen uns Entscheidungen getroffen werden.

Aber wir müssen weiterkommen, wir müssen Formen permanenter Mobilisierungen herstellen, die dazu in der Lage sind, die Kräfteverhältnisse dauerhaft zu verändern. Dafür werden wir uns mit all denen gemeinsam einsetzen, die sich in den politischen Parteien, den Gewerkschaften, den Verbänden in diese Richtung engagieren. Ein Ansatz dafür ist unsere aktive Beteiligung an der »europäischen Versammlung der Arbeitslosen und prekär Beschäftigten«.

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