Europäische Märsche
gegen Erwerbslosigkeit, ungeschützte Beschäftigung und Ausgrenzung

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EU-Referendum:

Ein französisches NEIN kann die Karten in Europa neu mischen

von MICHEL ROUSSEAU

Wir leben in Frankreich derzeit in einer gewissen Euphorie. Das NEIN zum neoliberalen Europa erhält in allen Meinungsumfragen die Mehrheit - sechs Wochen vor der Abstimmung liegt es in der 15.Meinungsumfrage bei 56%! Bleiben wir vorsichtig: Der »wissenschaftliche« Wert dieser Umfragen ist begrenzt, doch zweifellos spiegeln sie eine allgemeine Tendenz. Und diese Tendenz ist von Woche zu Woche steigend, obwohl fast alle Medien - Fernsehen, Radio, Zeitungen, selbst die führende Tageszeitung »Le Monde«, die den Ruf hat, »objektiv« zu sein - für das Ja trommeln. Der jüngste Fernsehauftritt von Chirac hat das NEIN noch einmal gestärkt: Dem Präsidenten fiel es schwer zu verstehen, dass die jungen Menschen, die vom Fernsehen »handverlesen« worden waren ihn zu befragen, nicht sehr enthusiastisch auf die Zukunftsperspektiven reagieren, die ihnen die neoliberale EU im allgemeinen und die Regierung Raffarin im besonderen bietet: Arbeitslosigkeit, prekäre Existenzen…

Wir erleben in dieser Kampagne für das NEIN eine beispiellose Mobilisierung der Linken. Dem Aufruf der Stiftung Copernic folgend, haben sich im ganzen Land etwa tausend örtliche Komitees für das NEIN gebildet (www.appeldes200.net). Auf der Linken haben sich alle politischen Kräfte (von der sozialdemokratischen Linken bis zur extremen Linken), Gewerkschaften (CGT, FSU, Solidaires), Netzwerke und Bewegungen (vor allem Attac) um den Kampf für das NEIN zusammengeschlossen und handeln gemeinsam. Allein in den größeren Städten haben bisher an die 2000 Veranstaltungen stattgefunden. Darüberhinaus findet die Kampagne vor dem Hintergrund anhaltender sozialer Mobilisierungen statt, vor allem im öffentlichen Dienst, in den Häfen und an den Gymnasien. Anders als üblicherweise bei Wahlen drehen sich die Debatten nicht um die zu wählenden »Köpfe«, sondern um den Inhalt. Man ist erstaunt über das hohe politische Niveau auf den Veranstaltungen. Die Anhängerinnen des NEIN argumentieren wirklich mit dem Verfassungstext. Die Anhänger des Ja suchen ihre Argumente an anderen Orten. Sie sagen, wer gegen die Verfassung ist, ist gegen Europa, für die extreme Rechte, für das Chaos, für den Krieg usw. Selbst die Führung der Sozialistischen Partei übernimmt diese monströsen Scheinargumente! Sogar der Jungfernflug des Airbus 380 Ende April in Toulouse und die Gedenkfeiern zum 8. Mai müssen als Argumente für das Ja herhalten!

Trotz der verbleibenden Unsicherheiten stellen sich alle schon die Frage, wie es nach dem 29.Mai weiter gehen soll, wenn das NEIN sich durchsetzt. Was machen wir, nachdem wir auf der Place de la Bastille und in allen Städten der Provinz gefeiert haben?

Selbst die Rechten anerkennen, dass es eine reale Dynamik für ein linkes NEIN gibt. Der französische Innenminister verspricht für diesen Fall einen Regierungswechsel, um die Unzufriedenheit in der Bevölkerung aufzufangen, die sich in einem NEIN entladen kann. Die EU-Kommission überlegt bereits Alternativszenarien; es gibt Bestrebungen, die geplanten Volksabstimmungen in den Niederlanden und in Großbritannien in diesem Fall abzusagen.

Die Sozialistische Partei steht unter schweren Spannungen. Ihre derzeitige Führung hat sich so eindeutig auf die Seite des Ja geschlagen und dabei sogar mit den Ultraliberalen verbündet - Parteisekretär François Hollande ließ sich dazu gemeinsam mit dem Chef der Regierungspartei UMP, Nicolas Sarkosy, abbilden -, dass die Partei sich zwischen einem linken Kurs oder einer Fortsetzung des Blairismus wird entscheiden müssen. Auch die KP wird eine Entscheidung treffen müssen: zwischen den Nostalgikern der stalinistischen Vergangenheit, den Anhängern einer Allianz mit einer New-Labour-SP und denen, die eine Neustrukturierung der Linken gemeinsam mit den sozialen Bewegungen suchen. Die extreme Linke wird sich entscheiden müssen zwischen einer angeblich radikalen Selbstisolierung und dem Aufbau einer neuen breiten politischen Kraft, die mit den sozialen Bewegungen verbunden ist und mit der neoliberalen Sozialdemokratie bricht.

Es liegt auch auf der Hand, dass ein Sieg des NEIN die Debatte über die Zukunft der EU neu anstößt - in Frankreich und anderswo. Am 19.März in Brüssel war das schon spürbar: hier dominierte das Nein zur Bolkestein-Richtlinie und das Nein zur Verfassung. Das europäische Netzwerk Transform und die Stiftung Copernic haben am 3.April in Paris eine europäische Versammlung für das NEIN und für ein anderes Europa organisiert. Über 15 Länder sind der Einladung gefolgt. Attac Deutschland hat eine Kampagne gestartet, das französische NEIN zu unterstützen. In Athen hat es anläßlich der Ratifizierung der EU-Verfassung im Parlament eine Demonstration zur Unterstützung des NEIN gegeben. Das französische NEIN kann die Karten in Europa neu mischen.

Die meisten Mitgliedstaaten der EU werden allerdings nicht das Recht haben, demokratisch über die EU-Verfassung abzustimmen. Die UnterstützerInnen des NEIN hoffen deshalb, dass ihre Stimme im französischen NEIN Ausdruck findet. Wir werden sie nicht enttäuschen.

Die Debatte um Alternativen für ein anderes Europa muss jetzt auf europäischer Ebene geführt werden - nach dem Beispiel des Netzwerks REDDS. Das Europäische Sozialforum in Athen bietet eine hervorragende Gelegenheit dazu. Der erste Schritt dahin ist ein europäischer Aufruf für das NEIN - er soll denen widersprechen, die behaupten, Frankreich wäre isoliert, wenn das NEIN sich am 29.Mai durchsetzt. Tatsächlich sind es die Anhänger des Ja, die Tag für Tag mehr in Frankreich und in ganz Europa isoliert sind.

Sie wollten nur eine große Freihandelszone. Wir wollen ein demokratisches, soziales, solidarisches und friedliches Europa. Seit 1997 sind wir dafür mit den Euromärschen unterwegs. Heute können wir gewinnen. Helft uns und kommt am Abend des 29.Mai nach Paris zur Bastille, um den Sieg gemeinsam zu feiern… oder unsere Tränen zu trocknen, wenn wir es nicht schaffen. In jedem Fall haben wir einen Sieg schon davon getragen: Überall in Europa ist das Bewußtsein gewachsen, dass der Neoliberalismus nicht die Zukunft der Menschheit ist.

Hasta la victoria, siempre!