Was wollen wir mit der Erwerbslosenversammlung im Dezember in Paris?

Vorbemerkung:

Der nachfolgende Text war ein Diskussionsbeitrag für die europäische Koordination der Märsche Ende Mai 2000. Auf der Grundlage der dort geführten Diskussion habe ich ihn leicht geändert und unterbreite ihn nunmehr dem Netzwerk der Märsche.
Mein Ziel ist, daß wir auf dieser Grundlage für die Tagung der Erwerbslosenversammlung Anfang Dezember in Paris einen Tagesordnungspunkt »Vorbereitung der Erwerbslosenversammlung in Brüssel, 2001« vorbereiten.


 

Im Anschluß an die Demonstration in Köln Ende Mai 1999 haben die Europäischen Märsche erstmals ein »Erwerbslosenparlament« durchgeführt. Die dreitägige Versammlung unterschied sich von Ablauf und Organisation nicht von einer beliebigen anderen Konferenz, die hintereinander Referate zu verschiedenen Themen diskutiert. Die Zusammensetzung der Teilnehmenden war zufällig - es waren diejenigen, die bereit gewesen waren oder die Zeit/ die Mittel hatten, nach der Demo noch ein paar Tage dranzuhängen. Der traditionelle Ablauf der Konferenz rief bei vielen Unmut hervor: Es war nicht ersichtlich, was damit bezweckt war. Unter dem Begriff »Erwerbslosenparlament« hatten sich die meisten etwas gänzlich anderes vorgestellt, ohne daß diese Vorstellungen thematisiert worden wären. Den Unmutsäußerungen konnte man entnehmen, daß die Beteiligten sich unter einem »Parlament« ein Forum vorstellten, in dem sie nicht Zuhörer, sondern Sprechende wären - also ein Forum, in dem sie selber zu Wort kommen und das dazu dient, ihren Willen zum Ausdruck zu bringen/ zu formulieren.
Sofern mit dem Begriff »Erwerbslosenparlament« in Köln diese Vorstellung verbunden war, ist es gründlich daneben gegangen. In späteren Debatten haben einige den Begriff dann gänzlich verworfen. Sie verbanden nun anderes damit, vorwiegend den Anklang an die bestehenden EU-Institutionen und die Sorge, das Erwerbslosenparlament werde ein Anhängsel derselben.
Die Versammlung, die wir im Dezember durchführen, wird den Namen »Parlament« nicht tragen. Ungeachtet dessen müssen wir in diesem Jahr nachholen, was wir in Köln (in Ermangelung von Kräften und wegen schwacher Organisation) versäumt haben: Wir müssen uns darüber verständigen, welchen Charakter und welchen Zweck die Versammlung haben soll. Wiederholen wir im wesentlichen, was wir auf den »großen Konferenzen« der Märsche, die bisher in Brüssel stattfanden, schon zuwege gebracht haben? Oder finden wir eine weitreichendere, langfristige Perspektive - und unsere Bewegung damit einen längeren Atem?

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Die Entwicklung der Euromärsche

 

  1. Europaweite Vernetzung der Erwerbslosen - wozu und wie ?
  2. Repräsentation und Legitimität
  3. Tätigkeit und Struktur
  4. Verhältnis zu den Institutionen der EU

1. Europaweite Vernetzung der Erwerbslosen - wozu und wie?

Die großen europäischen Konferenzen der Europäischen Märsche (die von 1997 und 1998 in Brüssel und die von 1999 in Köln) waren ihrem Charakter nach Aktionskonferenzen. Wir haben dort Inhalte, Bündnispartner und Verlauf unserer Aktionen diskutiert und beschlossen. Die Kontinuität unserer Aktionen hat dazu geführt, daß wir eine organisatorische und finanzielle Verbesserung der Arbeit des europäischen Sekretariats in Angriff nehmen konnten.
Dabei haben wir entdeckt, daß wir besondere Strukturen brauchen, in denen wir inhaltliche Diskussionen vertiefen und unsere Forderungen präzisieren - wir haben eine Arbeitsgruppe zum Mindesteinkommen eingerichtet und führen im Juni zusammen mit Erwerbslosen- und Sozialhilfeinitiativen, Rentnerorganisationen und Gewerkschaften ein Kolloquium zum selben Thema durch.
Das Grundmuster unserer Aktivitäten besteht bislang im wesentlichen darin, daß wir »von Gipfel zu Gipfel« ziehen und durch vorwiegend örtliche Mobilisierung allmählich eine flächendeckende europaweite Bewegung gegen Erwerbslosigkeit, ungeschützte Beschäftigung und Ausgrenzung aufbauen. Die Mobilisierungserfolge von Luxemburg, Cardiff, Wien, Lissabon geben diesem Konzept recht.
Dennoch erhebt sich die Frage, ob dies auf Dauer reichen wird, ob wir nicht einen Schritt nach vorn machen müssen - vor allem wenn sich die Mobilisierungen in Paris/Nizza, Göteborg und Brüssel als qualitative Fortschritte herausstellen, was nicht auszuschließen ist.
Der nächste Schritt könnte der Aufbau einer Struktur sein, die von den Erwerbslosenbewegungen in Europa allgemein anerkannt ist und die in der Lage ist, zwischen den offiziellen Gipfeltreffen und unabhängig von ihnen gemeinsame europaweite Kampagnen durchzuführen.
Es ist klar: Wenn wir eine Forderung wie die nach einem europäischen Mindesteinkommen ernst nehmen, können wir es nicht dabei belassen, anläßlich eines Ratsgipfels eine Demonstration durchzuführen; wir müssen uns darüberhinaus überlegen, welche Politik wir in der Erwerbslosenbewegung, in den Gewerkschaften und den anderen sozialen Bewegungen, vor Ort. landesweit und europaweit betreiben, um dem Ziel von verschiedenen Enden aus näher zu kommen. Wir müssen also enger zusammenrücken und unsere Politik aufeinander abstimmen.
Soweit, was die Effektivierung unserer Arbeit betrifft, damit wir den sozialen Druck steigern. Es gibt aber auch noch eine andere Seite, die betrifft die Legitimität europäischer Institutionen. Unsere Forderungen werden von der EU und den sie bildenden Regierungen bislang beharrlich ignoriert. Mehr noch: Wir erleben, daß die tariflichen und gesetzlichen Regelwerke, die den Arbeitsmarkt und die sozialen Sicherungssysteme bislang geordnet haben, ausgehöhlt werden: durch den Umbau der Sozialsysteme zu repressiven Fürsorgesystemen, durch die Abschaffung der Flächentarife und den Aufbau paralleler Arbeitsmärkte, auf denen die traditionellen Schutzmechanismen nicht mehr greifen. Die EU spielt eine wesentliche Rolle dabei, weil sie zunehmend engere Vorgaben für eine Beschäftigungs- und Sozialpolitik macht, die dem wirtschaftlichen Gewinn und der Wettbewerbsfähigkeit untergeordnet ist, ohne im mindesten verantwortlich zu zeichnen.
Die politischen Strukturen in der EU sind absolutistisch: die Regierungschefs haben alle Macht, eine Gewaltenteilung gibt es nicht, das Europa-Parlament ist ein Scheinparlament ohne Haushaltsrecht. An dieser Sachlage ändert auch die Verabschiedung eines Grundrechtekatalogs nichts, zumal dann, wenn die dort angesprochenen Rechte nicht individuell einklagbar sind.
Diese Defizite werden von einigen Verantwortlichen durchaus gesehen (s.Fischer-Rede). Bisherige Debatten über eine Reform der EU-Institutionen haben jedoch wenig gebracht; die Reformen, die unter dem Kommissionspräsidenten Prodi angegangen werden, verstärken eher den Charakter eines Protostaates, der wesentliche Entscheidungen trifft, ohne die Kosten zu tragen.
Erst die Entstehung einer breiten europaweiten und nicht auf die EU beschränkten sozialen Bewegung schafft den Raum für ganz andere Vertretungsorgane, außerhalb der bestehenden Institutionen, aber mit dem Anspruch auf legitime Vertretung der erwerbslosen Bevölkerung. Zu einem solchen Vertretungsorgan kann das Erwerbslosenparlament werden. In dem Maße, wie eine flächendeckende Repräsentation auch für andere Teile der sozialen Bewegung geleistet wird - prekär Beschäftigte, MigrantInnen und Flüchtlinge, Frauen, Lohnabhängige - könnte es zur Keimzelle für den politischen Entwurf eines anderen Europa werden: ein soziales, demokratisches, offenes und solidarisches Europa, in dem die Menschen ihre Zukunft selbst bestimmen.
Wir sollten auf der Versammlung der Erwerbslosen in Paris über diese mögliche Entwicklungsrichtung diskutieren und Festlegungen dazu treffen.

2. Repräsentation und Legitimität

Wenn wir eine Struktur schaffen wollen, die dauerhaft die gesellschaftlichen Interessen der Erwerbslosen, prekär Beschäftigten und Ausgegrenzten zum Ausdruck bringen will, muß diese repräsentativ zusammengesetzt sein. Sie kann nicht nach dem bisherigen Prinzip zusammentreten: es kommt, wer Lust und Zeit hat und die Geldmittel dafür aufbringt - was dann meistens Verbandsspitzen sind.
Auf der anderen Seite können wir heute überhaupt nicht daran denken, eine flächendeckende Vertretung für 18 Millionen Erwerbslose zu schaffen. Das würde voraussetzen, daß wir unter der erwerbslosen Bevölkerung reale Wahlen durchführen - dazu fehlen uns alle Mittel.
Realistisch können wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur eine Vertretungsstruktur für die Erwerbslosenbewegungen in Europa schaffen - das aber können wir flächendeckender und basisnaher, als es heute der Fall ist. In den Augen einer breiten Masse ist eine solche Struktur legitim, wenn sie nicht ein Kartell von Organisationen darstellt, sondern allen aktiven Erwerbslosen, die die grundlegende Zielsetzung teilen, offensteht. Ihre Zusammensetzung muß helfen, die Zersplitterung der Erwerbslosenbewegung zu überwinden.
Ein taugliches Verfahren dafür ist die Delegation nach Orten/Regionen - und nicht nach Organisationen. Alle am Ort aktiven Erwerbslosen(gruppen) würden eine gemeinsame Versammlung bilden, auf der sie über die Aufgaben der europäischen Vertretung und die zu delegierenden Personen befinden.
Wenn das Verfahren auf Anklang stößt, wird man eine Höchstzahl an Delegierten und einen Länderschlüssel brauchen. Ob dies schon beim ersten Zusammentreffen erforderlich ist, weiß ich nicht. Den Länderschlüssel kann man sowohl an der Bevölkerungszahl wie an der Zahl der Erwerbslosen orientieren.
Ein solches Delegationsverfahren erfordert eine hohe Mobilisierung, für die wir viel Zeit brauchen. Ein Instrument, diese zu befördern, könnte die örtliche/regionale Erstellung von Beschwerdebüchern sein - die zugleich inhaltliche Grundlage für die Versammlungen wären.
Eine solche europäische Versammlung wäre eine Struktur von Aktiven, aber eine, die diese möglichst flächendeckend und zusammenführend erfaßt. Sie hat mehr mit einer Rätestruktur, als mit einer Parlamentsstruktur zu tun.

3. Tätigkeit und Struktur

In Anbetracht dessen, daß die EU jede Verantwortung für eine aktive Arbeitsmarktpolitik ablehnt, hätte die europäische Vertretung der Erwerbslosen vorwiegend politische Aufgaben. In welchem Verhältnis diese auf der Ebene der Nationalstaaten zu dort praktizierten und Erwerbslosenorganisationen übertragenen Beschäftigungsprogrammen stehen, bedarf der Klärung.
Zu den politischen Aufgaben gehören:

  • die Beförderung des europaweiten Austauschs der Erwerbslosen, ihrer Kontakte von Ort zu Ort, damit Europa für sie erfahrbar wird;
  • die Planung und Durchführung von Kampagnen (zum Mindesteinkommen, zur Umverteilung des Reichtums, zu den sozialen Grundrechten). In diesen Kampagnen würden örtliche, landesweite und europaweite Aktionen eng miteinander verzahnt;
  • die Herstellung von …ffentlichkeit (das ist nicht nur als Pressearbeit gemeint);
  • die Organisation und Koordination von wissenschaftlicher Arbeit, in Zusammenarbeit mit Gewerkschaften, Stiftungen, Forschungsinstituten etc.;
  • sowohl die Zusammensetzung der Versammlung, als auch die Durchführung der genannten Tätigkeiten erfordern Geld (Fahrgeld, Aufenthaltsgeld, Geld für Übersetzungen), das akquiriert werden muß.

Für jede dieser Tätigkeiten kann die Versammlung einen Ausschuß bilden und damit ihre Arbeit auch in der Zeit strukturieren, in der sie nicht zusammentritt. Aus Gründen der Praktikabilität wäre daran zu denken, daß die Versammlung alle zwei Jahre zusammentritt. Dazwischen braucht sie arbeitende Strukturen.

4. Verhältnis zu den Institutionen der EU

Die europäische Vertretung der Erwerbslosen muß von Parteien unabhängig sein. Allein deshalb scheidet die Option aus, beim Europaparlament ein Parlament der Erwerbslosen anzusiedeln, wie es z.B. ein Parlament der Alten gibt (solche »Parlamente« werden ausschließlich von Parteien gebildet, die im EP vertreten sind). Sie soll nicht als Anhängsel des Europaparlaments erscheinen, sondern eine unabhängige Struktur sein.
Eine Erwerbslosenvertretung stellt aber natürlich Forderungen an die verschiedenen Gremien der EU, vorrangig an das EP, weil dieses am zugänglichsten ist. Es scheint mir deshalb sinnvoll, ein eigenes Antragsrecht für die europäische Erwerbslosenversammlung beim EP zu fordern, damit wir nicht immer über die im EP vertretenen Parteien gehen müssen - das würde auch die bisherige Praxis durchbrechen, daß nur Parteien zur Legislative zugelassen sind.

Wesentlich ist, daß wir uns bis zur Erwerbslosenversammlung Anfang Dezember in Paris darüber verständigen, ob wir die eine für Dezember 2001 in Brüssel vorgesehene Erwerbslosenversammlung in dieser Weise vorbereiten wollen und welche Vorschläge wir dafür haben. Wir werden bis Dezember in Paris auch einen Namen/eine Bezeichnung für diese Versammlung finden müssen, den alle mittragen können.

Angela Klein
Berlin, 28.5.2000

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